Leseprobe

Von der Anmut

Seit Tagen geht mir eine dreiunddreißigjährige Architektin aus der nordjapanischen Stadt Asahikawa nicht mehr aus dem Kopf, die sich mir vorstellte, als mich ein japanischer, aus dem südlich gelegenen Fukooka stammender Freund, der vor Jahren mit mir gemeinsam Spanisch in Buenos Aires studiert hat und heute bei einer japanischen Konzernvertretung in Düsseldorf arbeitet, auf seinem privaten Computer in Mettmann durch japanische Internetseiten führte, um die globale Simultaneität neuerer kultureller Prägungen vorzuführen, über die wir uns beim Abendessen unterhalten hatten. Die virtuelle Reise brachte uns auch in sogenannte Chaträume, von denen einige dezidiert erotischen Themen vorbehalten waren, was ich ohne seinen Hinweis nicht erkannt hätte, da sie sich nicht durch bestimmte Abbildungen oder anzügliche Zeichen auswiesen. Mein Bekannter übersetzte mir, soweit es ihm sein nicht wirklich gutes Deutsch erlaubte, die eine oder andere Stellungnahme, die seine These zu bestätigen schien, daß Japaner spätestens in einem erotischen Chatraum die anmutige Distanz ablegen, die ich immer mit ihrer Kultur identifiziert habe, und sich in der Wortwahl, den sogenannten Nicknamen und sogar in der Syntax nur unwesentlich von einem englisch- oder deutschsprachigen Chat vergleichbarer Art unterscheiden. Man wird überrascht, vielleicht sogar befremdet sein, wenn ich hinzufüge, daß es mir nicht unmöglich war, den japanischen mit dem diesbezüglichen deutschen Diskurs zu vergleichen, da ich den Reiz des Chattens, den zu erläutern hier nicht der Ort ist, schon bei anderer Gelegenheit kennengelernt und dabei auch solche virtuellen Räume betreten habe, die sich dem Sexuellen im engeren, nicht durchweg appetitlichen Sinne widmen. Eben weil ich über eine gewisse Vertrautheit mit dem hiesigen Jargon verfüge, war ich während der Führung meines Bekannten durch den japanischen Teil des Worldwideweb, die schließlich unser Gespräch über kulturelle Aspekte der Globalisierung zum Anlaß hatte, neugierig geworden, ob Japaner sich innerhalb eines Chatraums prinzipiell anders als Deutsche artikulieren, und so fragte ich ihn zunächst allgemein nach der Existenz japanischer Chatgemeinden, die er bejahte, ohne auf Anhieb näheres berichten zu können, da er trotz der Ferne von der Heimat noch nicht auf die Idee gekommen sei, im Internet mit Japanern zu kommunizieren, die er nicht kenne. Dank einer sogenannten Suchmaschine konnte er nach Minuten bereits eine entsprechende Website ausfindig machen, auf der wir wie von selbst in jenen Bereich gelangten, der auch in Japan Minderjährigen verboten, aber nicht verwehrt ist. Nach kurzen Einblicken in Diskussionen, die unterschiedlichen homosexuellen und sadomasochistischen Neigungen gewidmet waren, richteten wir es uns bei einer neuen Flasche Rotwein in einem Raum ein, der dem japanisch transkribierten, aber aus dem Englischen entlehnten Namen zufolge die Interessenten realer Verabredungen zusammenführte. Wohl wegen der ungünstigen Ortszeit, auf die mich mein Bekannter hinwies, herrschte nicht eben Hochbetrieb, doch genug, um aus seinen willkürlichen Übersetzungen unter anderem zu erfahren, daß für die folgende Nacht an einem bestimmten Rastplatz der Autobahn von Kagoshima nach Kumamoto einiges zu erwarten war. Ein junger Mann, der sich das japanische Wort für eine brennende Zigarette zum Pseudonym genommen hatte (ein deutscher Chatter würde wohl Glimmstengel sagen, aber ich vergaß zu fragen, ob das japanische Wort ebenfalls der Umgangssprache angehört), suchte für die nämliche Nacht eine ältere, vorzugsweise verheiratete Partnerin gleich welchen Aussehens in der Region Koriyama, während Juri17 aus Nobeoka uns vergeblich auf eine Website aufmerksam machte, auf der live eingespielte Bilder von ihr zu sehen seien. Anders als in den deutschsprachigen Chaträumen, an die ich mich erinnere, schienen sich nur einige wenige Chatter zu kennen; sie unterhielten sich über ihre momentane Stimmung oder ihre körperlichen Vorlieben (auffällig oft unter Nennung von Zentimeterangaben, denen in Japan entgegen des Klischees eines spirituellen Ostens offenbar eine größere Bedeutung beigemessen wird als bei uns). Die meisten betrachteten den Raum als bloße Kontaktbörse, ohne daß uns der Erfolg ihres Werbens einsichtig geworden wäre, da die Interessenten sich ähnlich wie in Deutschland kaum im allgemeinen Chatraum gemeldet, sondern die Möglichkeit genutzt haben dürften, einen privaten, für die übrigen Chatter also nicht zu verfolgenden Dialog mit dem Annoncierenden zu beginnen. Als mein Bekannter mir zum Spaß vorschlug, einen Satz zu nennen, den er übersetzt in den Chatraum stellen würde, konnte ich einerseits der Versuchung nicht widerstehen, mich einmal im Leben als Japaner auszugeben, um ein lüsternes Wort mit einer denkbar fremden Frau zu wechseln, mit der ich keine Sprache teile, wollte andererseits jedoch vermeiden, mich als Lüstling bloßzustellen, so daß ich auf die eitle Geste verfiel, eine Zeile des ihm unbekannten Paul Celan abzuwandeln, nämlich zu fragen, ob jemand bereit sei, mich mit Schnee zu bewirten, worauf sich besagte Architektin, deren Pseudonym übersetzt etwas wie Vorne und Hinten bedeutete, in einem privaten Dialogfenster nach der Stadt erkundigte, in welcher ich lebe. Von mir gebeten, eine beliebige Stadt zu nennen, tippte mein Bekannter Kyoto ein, was sie veranlaßte, ihr Bedauern auszudrücken, wohnte sie doch in Asahikawa, einer hochgelegenen Stadt ganz im Norden Japans, wie mich mein Bekannter aufklärte. Ein kurzer Schriftwechsel entspann sich, in dem ich ihren Beruf, ihr Alter und ihren Familienstand erfuhr und mich selbst mit Hilfe meines Bekannten als gleichaltrigen, im Unterschied zu ihr jedoch ledigen Arzt vorstellte. Dann schrieb sie nach Aussage meines Bekannten, daß sie sich durch meine, von Celan geborgte Frage nach dem Schnee angesprochen gefühlt habe, weil dieser bei ihr zur Zeit meterhoch liege, und ging unvermittelt über zu ihrer Sehnsucht nach jemandem, den ihre Wangen liebkosen dürften, jemandem, der sich ihren Haaren hingibt, eine Auskunft, die bei uns in Mettmann allerhand Spekulationen hervorrief, da weder mein Bekannter noch ich sie mit ihrem Pseudonym in Verbindung zu bringen wußten. Ich bat meinen Bekannten, sie vorsichtig nach dem Widerspruch zu befragen, indem er sie besonders auf die Anmut ihres Begehrens hinwiese, was ihn einige Überlegung kostete, bis er eine adäquate Übersetzung meines Anliegens fand. Sie antwortete nicht, sondern fragte ihrerseits, ob es mir prinzipiell möglich sei, kurzfristig zu ihr in den Norden zu fliegen, wo sie wegen einer beruflich bedingten Abwesenheit ihres Gatten zur Zeit allein die Kälte vertreibe. Ohne meine endgültige Reaktion abzuwarten, schrieb mein Bekannter, um mehr über die Architektin zu erfahren, daß ich prinzipiell bereit sei, mich heute noch ins Flugzeug zu setzen, falls unser weiteres Gespräch den Eindruck gegenseitiger Sympathie und gemeinsamer Wünsche verfestige, der sich mir bereits jetzt andeute. Nachdem ich beziehungsweise mein japanischer Bekannter also ihrer Lockung gefolgt und mit fast ausgestreckter Hand einen Schritt auf sie zugegangen waren, rührte sich eine endlose Minute nichts auf dem Bildschirm meines Bekannten, bevor sich Vorne und Hinten in einer Geste feenhafter Anmut unwiderruflich von uns abwandte: sie schrieb, daß ich sie mit meiner prinzipiellen Bereitschaft, eigens für sie von Kyoto nach Asahikawa zu fliegen, glücklich gemacht habe, sie aber leider nicht antreffen würde, da – und hier gingen ihre Worte nach Aussage meines Bekannten in Verse über – ihr Schiff in See stoße, am Mast ein Segel wie von Ängsten geschüttelt; eine wundervolle Fahrt unter heiterem Himmel erwarte sie. Wenngleich er sich keineswegs sicher war, meinte mein Bekannter die Verse, die lateinisch zu transkribieren ich ihn bat, dem gleich Celan berühmten, mir dennoch zuvor unbekannten japanischen Dichter Kitahara Hakuschu zuschreiben zu können. Sooft wir die Architektin noch ansprachen, erhielten wir keine Antwort mehr, so daß wir bald schon wieder den Chatraum verließen, um auf Seiten der japanischen Winzervereinigung und des Verbandes der japanischen Fruchtsaftgetränkehersteller zu stoßen, bis ich meinen Bekannten mit Blick auf die Uhr – schließlich mußte ich noch in die Haupstadt des Rheins zurückkehren – darum bat, die Führung durch den japanischen Teil des Worldwideweb für heute zu beenden, überzeugt von der globalen Simultaneität neuerer kultureller Prägungen und der Anmut einer dreiunddreißigjährigen Architektin, die sich den Namen Vorne und Hinten gab, um sich vom Dichter die Worte Ho wo kakete kokorobosoge no yuku fune no ichiro kanaschi mo uraraka nareba zu borgen, wenn die Transkription meines Bekannten stimmt.

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